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            Jenseits 
              vom Notenpult (oder: ein Bratscher wird 60)  
            Wenn 
              jede Originalkomposition von der barocken Zeit bis zum brandaktuellen 
              und wahrscheinlich ersten Bratschenkonzert des 21. Jahrhunderts 
              (Gil Shohat, 28-jähriger Jungstar der israelischen Komponistenszene 
              hat das Opus geschrieben und Tabea Zimmermann im Oktober 2001 in 
              Berlin uraufgeführt) seinen Reiz verloren hat, wenn jede Transkription 
              für Bratsche von mittelalterlichen Tänzen über die Cello-Suiten 
              bis zu Verbrechen der Neuzeit (gibt es etwa neben den "Pop-Hits 
              für Blockflöte" auch "Pop-Hits für Bratsche"?) abgenudelt ist, dann 
              strebt die/der Bratschenbegeisterte zu anderen (musikalischen) Ufern. 
              Ein Blick in den Jazz zeigt zwar, dass die Viola existent ist - 
              auf das Titelbild des Tickets Nr. 43/2001, der Tagesspiegel-Kulturbeilage, 
              hat es z.B. Martin Stegner, Bratscher bei den Berliner Philharmonikern 
              und bei seiner "Philharmonic Jazz Band" geschafft. Hier scheint 
              man sich dem Jazz jedoch eher akademisch zu nähern. Große Namen 
              wie bei der Geige (Stephane Grapelli) sucht man jedenfalls vergebens 
              (wer kennt bekannte Jazz-BratscherInnen? Bitte melden!).  
            Bei 
              der kleinen viersaitigen Verwandten sieht es mit der Migrationsbewegung 
              von der E- in andere Musiken ganz anders aus. Zwar gibt es auch 
              unrühmliche Beispiele (Vanessa-Mae kann dem geneigten Popkonsumenten 
              nicht nur die vier Jahreszeiten fiedeln, sondern auch nasse T-Shirts 
              tragen), die mit dem Schlüssel- und Gummibegriff "Cross-Over" zu 
              bezeichnenden Ausflüge des "Punkgeigers" Nigel Kennedy zu Jazz und 
              Jimmy Hendrix oder einem Solo bei Paul McCartney werden jedoch immer 
              wohlwollend zur Kenntnis genommen (ein ganz böser Bratschenwitz 
              von Herrn Kennedy: was ist die Gemeinsamkeit zwischen Bratschern 
              und den Terroristen des 11. Septembers? "Problems with the bowing/Boeing!"). 
              Im Jazz gibt es den Spannungsbogen zwischen den Traditionalisten 
              wie Stephane Grapelli (s.o.) und den jungen Wilden (z.B. Billy Bangs). 
              Mik Kaminsky hat mit seiner elektrischen Geige neben den zwei Cellisten 
              in der Glanzzeit (ca. 1973-1979) das Electric Light Orchestra erleuchtet. 
              Im Grenzbereich zwischen Pop und Avantgarde operiert die zynische 
              Laurie Anderson (die auch schon mal einen Bogen mit Tonband als 
              Haare benutzte, den sie dann mit dem Magnetkopf auf der Geige als 
              Abspielgerät zusammenbrachte). In Deutschland kennt man im Pop-/Rock-/Independentbereich 
              Namen wie City und Hans die Geige (Ostrock), Das Holz (zwei Geigen 
              und ein Schlagzeug) und die Inshtabokatables (Hauptakteure des Mittelalterrock). 
              Im Folk- und Countrybereich spielt die Geige seither eine wichtige 
              Rolle.  
            Aber 
              die Bratsche? Es gibt avantgardistische Streichquartette (Kronos 
              Quartett, Modern String Quartett, Turtle Island String Quartett), 
              das Penguin Café Orchestra hat mit Geoffrey Richardson einen außerordentlich 
              vielseitigen Bratscher (der auch Gitarre, Bass, Mandoline, Ukulele, 
              Cuatro spielt). Ja, es gibt noch Robbie Steinhardt, der bei den 
              Rockklassikern Kansas (ja, genau, die mit dem Kulthit "Dust in 
              the Wind", der eine schöne Streicherbegleitung besitzt) Geige 
              und Bratsche bedient. Auch die Herren von Cream haben die Bratsche 
              des Produzenten Felix Pappalardi eingesetzt (Bassist Jack Bruce 
              ist übrigens klassischer Cellist). Um eigenständige, expressive 
              Solisten zu finden, muss man lange suchen. In den Siebzigern waren 
              die Avantgardeband Art Zoyd aus Frankreich (Gerard Hourbette) und 
              die deutschen "Parzifal" mit Violasolisten ausgerüstet. In der heutigen 
              Zeit sind dies z.B. Violet Cab (mit Viola, Live-Elektronik, Drums) 
              und E.A.R. (Experimental Audio Research), die Rockmusik, E-Viola 
              und Improvisationsästhetik miteinander verbinden und in Berlin z.B. 
              anläßlich der Kunstausstellung "SENSATIONS" im Jahr 1999 aufgetreten 
              sind. Es lohnt sich, den Spuren nachzugehen, hier liegt Material 
              für weitere Artikel über die Bratsche - über den Notenpultrand betrachtet 
              - verborgen. 
             
              Aber es geht hier um einen bestimmten Mann, den Paten der elektrischen 
              Bratsche, der schon viel früher aktiv war. Er hat das Instrument 
              dahin gebracht, wo sich kein anderes Orchesterinstrument bis dahin 
              vorgewagt hat!  
            Am 
              Abend des 14. November 2001 läuft zur besten Sendezeit am Abend 
              Jan Schüttes deutsch-polnische Produktion "Der Abschied" 
              über einige der letzten Tage Bert Brechts , im August 1956 in seinem 
              Refugium am Buckower Schermützelsee. Der Film wird von wenigen schlanken, 
              wiederkehrenden, mal fröhlichen, mal melancholischen Klavierthemen 
              unterlegt. Komponiert hat sie ein überaus vielseitiger Komponist, 
              Songwriter, Sänger mit markanter, leicht nasaler Stimme, Performer, 
              Produzent und Musiker, der Keyboards, Gitarre, Bass bedient und 
              ....ja, natürlich, bekannt für sein elektrisches Bratschenspiel 
              ist: John Cale.  
            Am 
              29. November werden anläßlich seines Berliner Auftrittes am 4. Dezember 
              2001 auf Radio Eins Ausschnitte aus einem einstündigen Interview 
              gesendet. Am 4. Dezember zeigt er sich dann in Höchstform auf der 
              Bühne des ausverkauften BKA-Luftschlosses, in Lederhose und weitem 
              Leinenhemd, hinter dem Flügel oder an der Gitarre, und bietet ein 
              Einblick in sein Songschaffen der letzten 30 Jahre. Es ist erstaunlich, 
              dieser Mann hat am 9. März 2002 sein 60. Lebensjahr vollendet (und 
              in den Medien leider nur gähnende Leere)! Berlin ist ihm nicht unbekannt, 
              denn er hat eine einst unbekannte, jetzt mit Kultstatus versehene 
              Berliner Band, deren erstes Album nur 800 Anhänger fand, in London 
              für das Major-Label Polydor produziert: Element of Crimes "Try to 
              be Mensch". Über den Brecht-Film wurde schon oben berichtet. Cale 
              hat die Musik in Berlin in wenigen Stunden skizziert. Und in Berlin 
              wird er im Frühjahr 2002 im Hebbeltheater seine Biographie auf die 
              Bühne bringen.  
            Jugend 
               
            Geboren 
              wurde Cale am 9. März 1942 in Garmant, Wales. John Cale beschreibt 
              seine Jugend im provinziellen Wales wesentlich geprägt von der Dominanz 
              der Mutter - und der Unfähigkeit, mit dem Vater zu sprechen. Der 
              spricht kein Walisisch, und Englisch lernt John erst mit sieben. 
              Er genoß eine klassische Ausbildung, beginnt mit sieben Jahren das 
              Klavier- und Violaspiel, spielt die Kirchenorgel und die Viola im 
              walisischen Jugenorchester. Seine erste eigene Klavierkomposition, 
              "Toccata in the Style of Khachaturian" wird mit 13 beim BBC 
              aufgenommen. Er studierte am London Conservatory of Music ("Goldsmith 
              College") Piano und Viola. Die Leidenschaft Cales für Musik beschreibt 
              auch eine Sehnsucht nach Verständigung. Die Kunst wird nicht zur 
              Heimat, sondern bleibt ein Fluchtpunkt. Ob im Jugendorchester, nachts 
              am Radio (wo er Rock`n`Roll, Skiffle und Jazz entdeckt) oder am 
              Konservatorium, wo er das erste Mal seine Lehrer befremdet, als 
              er zum Studienabschluss ein Klavierkonzert im Knien mit den Ellbogen 
              gibt. Das war 1960, später nimmt er schon mal die Axt. Cale ist 
              von Selbsthass geplagt, aber mit einem Leonard-Bernstein-Stipendium 
              in den USA (Berkshire School of Music bei Boston) ausgerüstet, vermittelt 
              von den Komponisten John Cage und Aaron Copland, die er hartnäckig 
              bearbeitet hat, um New York zu erreichen, ein Jugendtraum, obwohl 
              der amerikanischen Komponist Aaron Copland Cales Spielweise für 
              destruktiv hielt und um die institutseigenen Instrumente fürchtete. 
              Mit dem Avantgarde-Komponisten und (Fast-)Namensvetter John Cage 
              führte Cale ein Pianowerk Saties auf, dessen Hauptthema von 13 Pianisten 
              in 36 Stunden 866 mal wiederholt wurde. Cale kam nach eigenen Angaben 
              anfangs nie auf die Idee selbst Rock`n`Roll-Musik zu spielen, sondern 
              beschäftigte sich mit der klassischen Avantgarde-Musik, elektronischer 
              Musik und Performance.  
            La 
              Monte Young und Velvet Underground  
            Mit 
              Entschlossenheit steigt Cale dann von der Avantgarde immer weiter 
              in den Rock-Underground. Einen entscheidenden Einfluss übt der Komponist 
              La Monte Young aus. Der legendäre Minimalist, dessen Arbeit kaum 
              dokumentiert ist, experimentiert mit Cale und dem Violinisten Tony 
              Conrad, in der Gruppe Dream Syndicate. Hier hört man zum ersten 
              Mal Cales charakteristisches Viola-Dröhnen, das später durch den 
              Sound der Formation klingen sollte, die John Cales Ruhm begründete 
              und sein Ego bis heute verstört: The Velvet Underground. Für einen 
              spezifischen Sound bespannte Cale seine Viola mit Gitarrensaiten 
              und stimmte sie in einer ungewöhnlichen Weise. Auf Konzerten spielten 
              The Dream Syndicate Stücke, die aus einzelnen, langanhaltenden Tönen 
              bestanden, die über Stunden ununterbrochen gespielt wurden. Damit 
              erprobte Cale die monotone und minimalistische Spielweise, die später 
              typisch für Velvet Underground werden sollten. Cales Kenntnisse 
              über serielle Formen der Musik bildeten den Grundstein für den ganz 
              eigenen, anderen und damals fast revolutionären Sound der Velvet 
              Underground. Cale kam zwar von der Klassik, erkannte aber in Lou 
              Reed und dessen Songs einen, der ihm auf eine anspruchsvolle Art 
              das große Gebiet des Rock`n`Roll näherbringen konnte und mit dem 
              er seine eigene Musikvorstellung verwirklichen konnte. Cale war 
              jedoch nicht nur auf die Viola beschränkt, mit der er elektronische 
              Splitterbomben warf, sondern spielte bei Velvet Underground abwechselnd 
              Klavier, Gitarre und Bass. Der Pop Art-Papst Andy Warhol engagierte 
              die Band, die sich 1965 in Syracuse, New Jersey als The Falling 
              Spikes, gegründet hat, für seine Multi-Media-Show "The Exploding 
              Plastic Inevitable", die ab April 1966 im "Dom" (Polnisch für Haus) 
              auf der New Yorker Lower East Side gezeigt wurde. Nico alias Christa 
              Päffgen aus Deutschland, damals Superstar der Warholschen Film-Factory 
              und schon eine Single in der Tasche, half der Band als distanzierte 
              Sängerin mit einem unvergleichlichen leeren, morbiden und nicht 
              ganz sicheren Gesangsstil. Ihre Versuche, der Band Dylan näher zu 
              bringen, scheiterten. Sie hassten die "Folkies" und Dylan, orientierten 
              sich an Gitarrenbands. Nicos Anteil an der ersten LP wird überschätzt, 
              sie sang nur drei Stücke. Mehr Raum wollte ihr der egoistische Lou 
              Reed nicht lassen, auf der Bühne speiste er sie oft mit dem Tambourin 
              ab. Im Frühjahr 1967 ging sie.  
            Der 
              Name der Band ist Synonym für die verruchte Seite der Rockmusik, 
              für Drogen und Sex, Lärm und Gewalt. Im Zentrum stehen mit Cale 
              und Lou Reed zwei genialische Exzentriker, deren Grossmäuligkeit 
              ihrer Brillanz kaum nachstand. In seiner Autobiografie bemüht sich 
              Cale mit gewissem Erfolg, die Spur geteilter Nadeln und Frauen, 
              Ästhetik und Ideen objektiv zu schildern. Die Beziehung zwischen 
              ihm und Reed wirkt symbiotisch, man hält sie fälschlich für ein 
              Liebespaar. Tatsächlich, mutmasst Cale bescheiden, war seine sexuelle 
              Verweigerung womöglich ein Grund für Reed, den Freund und Katalysator 
              aus der Band zu mobben. Cales kompositorischer Anteil an den Velvet 
              Underground-Stücken ist größer, als es auf den Plattenhüllen dokumentiert 
              ist. Cale macht von Beginn an Reeds Egomanie für Streitereien und 
              Enttäuschungen verantwortlich, bis hin zu den letzten Gemeinschaftsarbeiten, 
              dem mit Lob bedachten Warhol-Requiem "Songs for Drella (1990) und 
              der Velvet-Underground-Reunion von 1993. Der Rausschmiss im Oktober 
              1968 nach den Alben "Velvet Underground & Nico" (März 1967) und 
              "White Light/White Heat" (Januar 1968) jedenfalls wird für Cale 
              eine zentrale traumatische Erfahrung. Dafür bekam er aber am gleichen 
              Tag einen Vertrag von Columbia für zwei Alben und bekommt freie 
              Hand für die Verbindung zwischen Klassik und Rockmusik.  
            Die 
              Solojahre  
            Fortan 
              vergiesst er sein Herzblut in den Soloarbeiten, produziert heute 
              Legendäres von The Stooges, Nico, deren Mentor er ist, oder Patti 
              Smith, aber die wirklich beunruhigende Energie konzentriert er in 
              seine Liveauftritte als Sänger, Gitarrist und Pianist. Er galt aufgrund 
              seiner künstlerichen Unbestechlichkeit als geistiger Führe. Sein 
              erstes Album nimmt er 1969 auf ("Vintage Violence"), es erscheint 
              im September 1970 und zeigt sein gutes Händchen für bemerkenswert 
              schöne und eigenständige Melodien.  
            Seine 
              Songs in dieser Zeit sind die besten, die er zu Papier bringt, kleine 
              Perlen, viel besser als alles, was von Lou Reed kommt: Close Watch, 
              Hanky Panky Nohow, Ship of Fools, ..... Seine Songs aus dieser Zeit 
              werden auch von Künstlern gecovert. Seine Einspielungen hatten die 
              "Qualität Hitchcockscher Mysterien": "Church of Anthrax" 
              "vereint klassische Erinnerungen, aktuelle Rock-Gegenwart, und 
              elektronische Zukunft zu raffinierten Essays musikalischer Universalität", 
              "The Academy In Peril" "arrangiert die musikalische Geschichte 
              Englands als konfusen Witz für Eingeweihte", "Paris 1919" verzerrt 
              "die gesamte europäische Hochkultur durch eine dadaistisch-surrealistische 
              Perspektive", "Fear" schreckt als "Abenteuer-Trip in die 
              Nachtschatten-Welt eines Vierziger-Jahre-Films der schwarzen Serie", 
              "Music For A New Society" paralysiert als "Meisterwerk zum Puls-Aufschlitzen", 
              "Caribbean Sunset" sitzt "wie die Pistole auf der Brust", 
              "Artificial Intelligence" überraschte als "Werk eines Humanisten 
              mit der Freude am Skizzieren von Miniaturen." Cale sah sich 
              in seinem Metier fehl am Platz: "Ich habe im Rock`n`Roll nichts 
              verloren. Ich muß immer wieder darauf hinweisen, daß ich ein klassischer 
              Komponist bin, der seine musikalische Persönlichkeit damit verludert, 
              im Rock`n`Roll zu dilettieren." Sollte es eine Rückkehr zur 
              Klassik geben, "dann möchte ich wie Schostakowitsch dastehen. Wenn 
              die Zukunft der klassischen Musik jedoch in den Händen von John 
              Cale liegt, dann gnade uns Gott." John Cales Musik lebt vom 
              Nebeneinander E-musikalischer Avantgarde und Popmusik. Sein Werk 
              ist geprägt von Motiven des Kunstlieds, orchestralen Collagen, Film- 
              und Balettmusiken und kathartischen Rock-Zornesorgien.  
            Krieg, 
              Aggression, Zerstörung werden seine bevorzugten Metaphern. Das Publikum 
              zu überrumpeln und zu konfrontieren, wird zur Therapie für seine 
              Zerstörungswut, die sich im wirklichen Leben meist gegen ihn selbst 
              richtet. Berüchtigt ist Cale jedoch mehr für die symbolischen Attacken 
              aufs Publikum: vor allem für Verdunkelungsmanöver, für die gewalttätige 
              Aura der Eishockeymaske etwa, die er bei Konzerten trägt, für das 
              öffentlich ins Auditorium geköpfte Huhn in Croydon, 1976, mit dem 
              er selbst die anwesenden Punks schockierte. "Kein Mitleid mit 
              dem Huhn", sagt er heute.  
            Während 
              er sich die musikalischen Theorien aus dem klassischen Avantgardebereich 
              holt, nutzt er, wie ein rockender Antonin Artaud, die Unmittelbarkeit 
              des Populären. Ab einem bestimmten Punkt hält er die Performance 
              für das "Wichtigste, was ich bis dahin getan habe." Die Initiation 
              ist ein Auftritt in England mit Kevin Ayers, Nico und Brian Eno, 
              veröffentlicht unter dem Datum "June 1 1974", darauf Cales unvermeidliches, 
              zum Standard gewordene Fassung von "Heartbreak Hotel" mit 
              dem verzweifelten Gebrüll am Ende.  
            "Eine 
              Produktion", schreibt Cale, "ist erst komplett, wenn man 
              sie auf Tour bringt und auf ein Publikum loslässt." Solcherlei 
              Apodiktik, mit der er sich auch immer wieder seiner Rolle in den 
              verschiedenen Partnerschaften versichert, zielt natürlich auch auf 
              den "geschmacklosen Velvet-Kult", der den Blick auf seine 
              eigene Musik verstellt.  
            Sonne 
              scheint auch zu Beginn von Cales Solokarriere in Los Angeles, die 
              er als Talentscout für Warner Bros. finanziell fundieren kann. Hier 
              trifft er die Studio-Elite der Westküste. Kalifornien, das heisst 
              auch für Cale schnelle Autos, schneller Erfolg und schnelle Drogen. 
              Privat tut sich jedoch bald ein weiterer Abgrund auf - neben drogeninduzierter 
              Nachlässigkeiten vor allem in Form einer desaströsen Ehe mit einer 
              Musikerin der von Frank Zappa protegierten Frauenband GTO. Es folgen 
              der Umzug nach London, ein paar Platten, ein paar verwüstete Bekanntschaften, 
              und Cale kehrt ausgebrannt zurück nach New York. Zwischen 1976 und 
              1980 erscheint ausser "Sabotage Live" nur eine, nicht von Cale selbst 
              verantwortete, Kompilation namens "Guts". "Honi Soit" aus dem Jahr 
              1981 kommt wieder frisch daher, in Rockbandbesetzung. Cale scheint 
              die Errungenschaften der letzten Jahre (Punk) zu filtern, und vermischt 
              sie mit Rock und New Wave. "Riverbank" ist wieder einer dieser klassischen 
              Cale-Balladen für die Ewigkeit, Bestandteil seiner Soloabende.  
            Mitte 
              der Achtzigerjahre scheint ihn die Geburt seiner Tochter Eden zu 
              retten, auch nach der wieder unvermeidlichen Trennung von deren 
              Mutter Risé. Er macht eine Entziehungskur, treibt besessen Sport, 
              um seinen Körper jung zu halten, freut sich an Designerzwirn und 
              stürzt sich in die Arbeit. Auch die verkorkste Velvet Underground-Reunion 
              wirft ihn nicht nachhaltig aus der Bahn. "Ich habe im Moment 
              die positivste und erfolgreichste Zeit meines Lebens", schreibt 
              er. Er möchte dem Rockzirkus den Rücken kehren: "Ich habe versucht, 
              ein Rockstar zu sein; daran bin ich nicht mehr interessiert. Glücklicherweise." 
              "Gott weiß, warum ich nicht tun kann, was Brian Eno oder Lou 
              Reed machen; und sie nicht das, was ich mache." 1996 hat der 
              "Rockstar" mit "Walking on Locusts" aber wieder ein eingängiges 
              Album mit potentiellen Hits (z.B. "Dancing Underwater") geschaffen, 
              sehr homogen, mit poppig-countryhaftem (Steelguitar) Charakter und 
              Weltmusikanklängen. Fast klingt er wie David Byrne, und der spielt 
              bei einem Stück tatsächlich Gitarre und ist Koautor. Die Streichersoli- 
              und Begleitungen stammen vom Soldier String Quartet.  
            Der 
              walisische Eigenbrötler schuf die Musik zum multimedialen Spektakel 
              "Life Underwater" und zum Film "American Psycho". Im Mai 2000 wurde 
              er Ehrendoktor der belgischen Universität Antwerpen.  
            Die 
              Autobiographie  
            So 
              zerklüftet, wie John Cales musikalische Arbeiten oft sind, liest 
              sich auch seine Autobiografie "What's Welsh for Zen". Cale hat sein 
              Leben mit oft schmerzhafter Klarheit dem Publizisten Victor Bockris 
              auf Band gesprochen, der nach Büchern über Warhol, Lou Reed und 
              Velvet Underground so etwas wie der offizielle Biograf der New Yorker 
              Popkultur der Sechzigerjahre geworden ist. Cale schickt seine Privatobsessionen 
              und sein Milieu, den Underground, auf die Couch. Mit der Direktheit 
              eines Liveauftritts beschreibt er, wie sich Drogen, Kunst und Handel 
              verstricken und gegen ihre Subjekte verbünden können. Unschärfen, 
              Redundanzen und Wiederholungen, Merkmale moderner Kunst und Musik, 
              haben der Autor und sein Protokollant bewusst zugelassen.  
            Dank 
              des Layouts von David McKean, das sich auf diese Form der Erzählung 
              einlässt, ist "What's Welsh for Zen" zugleich eine schicke Reliquie 
              für die Coffeetables mehrerer Generationen von Musikfans geworden. 
              Eingebunden in grossformatige Rohpappe, purzeln punkig collagierte 
              Schrifttypen und -grössen auf Erinnerungsfotos, die ausgewaschen 
              und brüchig sind. Hinzugefügt sind Statements von Weggefährten; 
              Songtexte werden assoziativ eingeworfen, und Tuschezeichnungen, 
              schief und kantig, greifen wichtige Stationen auf.  
            "What's 
              Welsh for Zen" ist keine Abrechnung und auch kein Klatschbuch. Zu 
              heftig ist die Selbstkritik, zu düster sind meist die Skandale um 
              Sex, Drogen und andere Exzesse. "Während ich das Buch schreibe, 
              werde ich trauriger und trauriger. Ich finde keine Selbsterkenntnis, 
              nicht die geringste Selbstachtung und keine Vision", heisst 
              es einmal in einer Passage zu den Achtzigerjahren.  
            Selten 
              sind Cales Erinnerungen so unbeschwert wie in den frühen New Yorker 
              Tagen, mit leichten Drogen von La Monte Young, "dem besten Dealer 
              der Avantgarde." Die Freundschaft mit Andy Warhol ist eine der 
              wenigen dauerhaft freundlichen Erlebnisse in Cales Leben. Immer 
              wieder kreuzen sich ihre Wege, auch nachdem Lou Reed Warhol als 
              Manager von Velvet Underground absetzt.  
            Auch 
              in seinem Buch ist Cale ein guter Erzähler, der sich der Stimmungen, 
              die er vermittelt, sicher ist. So meint er zu seiner besten Platte: 
              "Music for a New Society" ist freudianisch. Quälend ist das richtige 
              Wort. Alle Figuren in den Liedern haben etwas verloren. Unglücklicherweise 
              endet es für die Hauptfiguren immer in der Isolation. Die Stücke 
              zu singen war für mich wie Method Acting."  
            Gelegentlich 
              raunt es ein wenig heftig, John Cales walisisches Zen-Mantra, von 
              den Frauen, Freunden, Drogen, die ihn durch die Jahre verlassen 
              haben, zuallererst die Mutter, die für Jahre auf der Krebsstation 
              verschwindet. Dann gehen die Lebern kaputt, seine eigene und auch 
              die von Lou Reed, und es sterben die Leute: Warhol, Nico, Sterling 
              Morrison, dem das Buch gewidmet ist, (Bassist und Gitarrist bei 
              Velvet Underground, später Literaturdozent), der Vater, der "eine 
              leere Seite" bleibt.  
            Eine 
              1992 erschienene Aufnahme eines Soloauftritts nennt er "Fragments 
              of a Rainy Season". In ihrem Lauf durch die Jahrzehnte wirkt sie 
              wie eine autobiografische Herbstreise. "What's Welsh for Zen" funktioniert 
              ähnlich, eben nicht nur gelebt, sondern auch komponiert. In der 
              Einleitung heisst es: "Each piece in the book in a sense might 
              be like a song in that its short, sweet, satisfying, amusing, informative 
              and cool (and hip)."  
            Diskographie 
              (ohne Singles und Sampler), mit Label und Erscheinungsjahr:  
            · 
              "LaMonte Young's Dream Syndicate" (Columbia, 1962) 
              · 
              "Table of Elements" (Sun Blindness Music, Musik aus der Zeit von 
              1965 bis 1968)  
              · "The Velvet Underground & Nico" (mit Velvet Underground, Verve, 
              1967)  
              · "White Light/White Heat" (mit Velvet Underground, Verve, 1968) 
               
              · "Vintage Violence" (Columbia, 1970)  
              · "The Church of Anthrax" (mit Terry Riley, Columbia, 1971)  
              · "The Academy in Peril" (Reprise, 1972)  
              · "Paris 1919" (Reprise, 1973)  
              · "Fear" (Island, 1974)  
              · "June 1 1974" (mit Kevin Ayers, Nico und Brian Eno, Island, 1974) 
               
              · "Slow Dazzle" (Island, 1975)  
              · "Helen of Troy" (Island, 1975)  
              · "Guts" (Island, 1977)  
              · "Sabotage Live" (Spy, 1979, Livealbum)  
              · "Honi Soit" (A&M, 1981)  
              · "Music for a New Society" (Ze, 1983)  
              · "Carribean Sunset" (Ze, 1984)  
              · "John Cale Comes Alive" (Ze, 1985)  
              · "Artificial Intelligence" (Beggars Banquet, 1986)  
              · "Even Cowgirls get the Blues" (Special Stock, 1986, Livealbum 
              aus dem Jahr 1978)  
              · "Words for the Dying" (Opal, 1989)  
              · "Wrong Way Up" (mit Brian Eno, Opal, 1990)  
              · "Songs for Drella" (mit Lou Reed, Sire, 1990)  
              · "Paris S'Eveille" (Les Disques du Crespuscules, 1991)  
              · "Fragments for a Rainy Season" (Hanniba1, 1992, Livealbum)  
              · "Live MCMXCIII", (mit Velvet Underground, Columbia, 1993, Livealbum) 
               
              · "Seducing Down the Door" (Rhino, 1994)  
              · "3 Solo Pieces for La naissance de L'Amour" (Les Disques du Crespuscules, 
              1993)  
              · "Last Day on Earth" (mit Bobby Neuwirth, MCA, 1994)  
              · "Peel slowly and see" (CD-Box mit Velvet Underground, Columbia, 
              1995)  
              · "N'Oublier Pas Que Tu Vas Mourir" (Les Disques du Crespuscules, 
              1995)  
              · "Antartida" (Les Disques du Crespuscules, 1995)  
              · Island "The Island Years" (Island, 1996)  
              · "Walking on Locusts" (Hannibal, 1996)  
              · "Eat/Kiss" (Hannibal, 1997, Musik aus den Filmen von Andy Warhol) 
               
              · "Nico/Dance Music" (Detour, 1998)  
              · "Le Vent De La Nuit" (Les Disques du Crespuscules)  
              · "Unknown" (Les Disques du Crespuscules)  
              · "Close Watch" (Polygramm)  
            Darüber 
              hinaus hat er auf vielen Samplern seine Spuren hinterlassen. Mitgewirkt 
              als Musiker hat er neben vielen anderen Produktionen bei den Tonträgern 
              von William Burroughs, Leonhard Cohen, Brian Eno, Nick Drake, Mike 
              Heron, Nico, The Replacements, The Stooges, Maureen Tucker, und 
              Suzanne Vega.  
            Die 
              Liste seiner Produzententätigkeit ist sehr lang: Nicos erste Alben, 
              bei denen er auch als Musiker und Komponist aktiv war, und in alphabetischer 
              Reihenfolge Elements of Crime, Lio, Jesus Lizard, Happy Mondays, 
              Jonathan Richman and the Modern Lovers, Patti Smith ("Horses"), 
              Siouxsie an The Banshees, Squeeze, The Stooges (bei beiden z.B. 
              die hochgelobten Debütalben), Jennifer Warnes, und, und, und... 
               
            Cales 
              Bratschenspiel  
            Als 
              Beispiel für sein Bratschenspiel sollen hier vier Songs dienen: 
              Ein Stückchen von "Heroin" (Lou Reed) sowie der Song "The Black 
              Angel`s Death Song" (Cale/Reed), beide vom ersten Velvet Underground-Album 
              und beide Beispiel für den typischen eintönigen "Bordunstil". "Wall", 
              ein Violasolo, kommt von den Aufnahmen zum ersten Soloalbum und 
              kam erst bei der Neuauflage auf die CD. Es steht ebenfalls für Cales 
              avantgardistischen Stil. "The Streets of Laredo" vom Album 
              "Honi Soit" ist eine schräge Version eines amerikanischen traditionals, 
              mit schöner Soloviola.  
            Aus 
              urheberrechtlichen Gründen können die Stücke hier 
              leider gar nicht als mp3-Dateien gespeichert werden. Wer sich aber 
              in den einschlägigen Internet Tauschbörsen (z.B. Audiogalaxy) 
              umsehen möchte oder gar die eine oder die andere CD erstehen 
              will, erhält hier konkrete Infos zu den Stücken: 
               
                
              "Heroin" (aus der CD The Velvet Underground & Nico, 
              1967) 
               
                
              "The Black Angel's Death Song" (aus CD The Velvet Underground 
              & Nico, 1967) 
              
              "Wall" (aus der CD Vintage Violence, 1970) 
               
                
              "Streets of Laredo" (aus der CD Honi Soit, 1981) 
               
            Sven-Martin 
              Nielsen, März 2002 
                
                 
            Quellen: 
              John Cale und Victor Bockris: What's Welsh for Zen? Mark Ford: The 
              style it takes Barry Graves, Bernward Halbscheffel, Siegried Schmidt-Joos: 
              Das neue Rocklexikon Harald Klinke: The Velvet Underground Eine 
              Untersuchung des ästhetischen Einflusses Andy Warhols auf die Band 
               
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